Ein persönlicher Rückblick, 2008
Eigenübersetzung
Als Kind machte mir ein Haus in der Straße meiner Eltern Angst. Umgeben von einem Garten mit dunklem Holzzaun und weiß getünchten Wänden unterschied es sich von den anderen Häusern und wenn ich zum Park ging, wechselte ich den Bürgersteig und beschleunigte den Schritt. Ich wollte nicht von der Hexe erfasst werden, die dort mit aller Sicherheit wohnte.
Später, als ich schon lesen konnte, näherte ich mich einmal dem Schild am dunklen Holzzaun: Akademischer Turnverein.
Akademischer Turnverein
Das war eigenartig. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte.
Als ich alt genug war, bestimmte Dinge zu verstehen, gab mir mein Vater ein Erklärung. Es handelte sich um Studenten, die sich in einer Art Sportverbindung trafen, um an verschiedenen Aktivitäten teilzunehmen, und oft eine politisch konservative Linie vertraten. Seltsamerweise stellte ich sie mir als verklemmte Leute vor, mit hoch zugeknöpften Hemden und kurzen Hosen, auf Turnmatten. Akademischer Turnverein! Ich kannte Sportvereine, aber akademische Turnvereine??
Manchmal parkten Autos mit westdeutschen Kennzeichen vor dem Haus. Fuhren die durch den Osten, um gemeinsam in Westberlin zu turnen? Da es kein Vergnügen war durch die DDR zu fahren, weil die Straßen schlecht, die Geschwindigkeit auf 100 km/h begrenzt und die Wartezeiten an der Grenze manchmal endlos waren, blieben die Wochenendtreffen im Hexenhaus für mich lange Zeit wenn nicht fragwürdig, so doch zumindest rätselhaft. Turnen behielt für mich einen politischen Beigeschmack, auch wenn ich noch nicht verstand, worum es eigentlich ging.
Der Schulsport und die Spiele, die ich in der Halle oder im Stadium verfolgte, waren mir nicht fremd und schienen ganz klar in meinen Kinderalltag zu passen. Am späten Samstagnachmittag versammelte sich unsere Familie bei Kaffee und Kuchen vor dem Fernseher, um Bundesliga zu gucken. Ein gemütlicher Moment, unterbrochen von lautem Geschrei für oder gegen diese oder jene Mannschaft.
Erst später holt die politische Dimension für mich dann den Sport ein, und zwar bei der bewussten Wahrnehmung eines bestimmten Ereignisses: 1990 ist Fußball-WM und Deutschland gewinnt. Nichts Besonderes für diese Mannschaft, die ja schon ein Paar Sterne hat.
Aber fürs Viertel- und Halbfinale befinden wir uns in Polen auf Klassenreise, in Krakau.
In nächster Nähe, Auschwitz.
In nächster Nähe, Auschwitz.
25 Jugendliche und drei Lehrer.
Was an diesen Tagen geschah, ging weit über den Rahmen der Gedenkstättenfahrt hinaus. Geschichte kollidiert mit Sportevent.
25 Jugendliche brüllen auf den mit Fernsehern ausgestatteten Etagen eines ehemalig kommunistischen, polnischen Hotels den Sieg ihres Landes raus. Lehrer und Schüler, von der Leistung ihrer Mannschaft und vom örtlichen Wodka berauscht, erstanden zum günstigen Wechselkurs für D-Mark-Besitzer.
Es bleibt ein Gefühl anhaltender Scham zurück. Mangelnde Achtung, rücksichtslos der Stätte gegenüber. Man kann seine Gesten nicht rückgängig und die Lieder nicht ungeschehen machen. Wir waren unangemessen im Ausdruck unserer Euphorie. Am nächsten Tag beschweren sich Hotelgäste.
Wir waren gekommen, um zu sehen und nicht zu vergessen, um diejenigen zu ehren, die nicht mehr sind, durch die Schuld unseres Volkes, und hatten gleichzeitig der Freude über den Sieg unserer Nationalmannschaft freien Lauf gelassen.
1990, ein Jahr nach dem Mauerfall gewinnt das wiedervereinte "große" Deutschland die weltweit meistdiskutierte Siegestrophäe, und manche Nachbarländer sind besorgt.
Und wir, ein paar Kilometer vor Auschwitz.
16 Jahre später, 2006, gibt es wieder Fußball-WM. Deutschland ist Gastgeber, ohne zu gewinnen dieses Mal. Aber die sehr junge Mannschaft kommt bis ins Halbfinale und da ist sie wieder, die Euphorie. Doch diese ist ganz anders. Das ganze Land erfreut sich eines noch nie dagewesenen Nationalgefühls, das von den Nachbarländern, aber vor allem von den Deutschen selbst akzeptiert und sogar begrüßt wird. Überall wehen schwarz, rot, goldene Fahnen. Und alles läuft gut. Manche behaupten, jetzt erst fände die wirkliche deutsche Wiedervereinigung statt, auf den Straßen und nicht auf dem Papier!
Zufälligerweise verbringe ich die Zeit dieser Weltmeisterschaft zwischen Berlin und Montreal, wo ich an einem Sporfilmfestival und der Organisation eines Wochenendes mit WM-Finale-Übertragung auf Großleinwand teilnehme, was es so in einer nordamerikanischen Stadt noch nie gegeben hat. Selbst die New York Times schreibt darüber.
Selbst die New York Times schreibt darüber.
Auf die erste Ausgabe folgten weitere und es wird von diesem Festival, aber vor allem seinem Untersuchungsfeld, in einem weiteren Beitrag die Rede sein, denn - ehrlich gesagt - habe ich nie hinterfragt, was Sport eigentlich bedeutet.
Was ist Sport?
Und was hat er mit dem akademischen Turnverein zu tun??
Sport war schon immer ein Teil meines Lebens, mal mehr, mal weniger, ich bin leidenschaftliche Anhängerin zweier großartiger Mannschaften (weder Bayern noch PSG!), ein Fan von Handball und Eishockey und habe Kunstgeschichte und Kulturmanagement studiert. In meiner Familie sind wir Juristen, Musikwissenschaftler oder Lehrer für Politik- und Sozialwissenschaften.
Und obwohl mich die akademischen Turner und Turnerinnen in ihrem Hexenhaus in der Straße meiner Eltern erschreckten, so habe ich doch beides ausgeübt, das Turnen in der Schule und den Sport in meiner Freizeit, ohne dass mir zwangsläufig und ganz naiv deren enger Zusammenhang bewusst war. Ich hatte keine Ahnung vom kolossalen Ausmaß dieses faszinierenden Forschungsgebiets, dessen Bandbreite ich in einem der nächsten Beiträge sinnerfassend vorzustellen hoffe.
Sanna Hanssen, 2008
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